Heftige Schnabelhiebe trafen wieder und wieder die Scheibe, begleitet von immer schriller werdenden, wütenden Rufen. Snape erhob sich schlaftrunken und schaute zum Fenster. Ein riesiger Schatten war davor zu sehen. Rasch öffnete er den Riegel und bekam einen tiefen Kratzer an seiner rechten Hand ab, als sich der Uhu an ihm vorbei ins Schulleiterbüro drängte, mit heftigem Flügelschlagen zahlreiche Wasserspritzer im Büro und auf Snapes Umhang verteilend. Mit einem kampfeslustigen Fauchen meldete sich die kleine graue Katze, die nicht einmal halb so groß war wie der Vogel. Der Uhu machte ein seltsames Geräusch und wich keinen Millimeter zur Seite. Neugierig kam die kleine Graue ein Stück näher und beäugte den späten Gast und anschließend ihren neuen Menschen. Vorsicht schien angeraten; dieses große Tier hatte einen bedrohlichen Schnabel, doch ihr Mensch schien keine Angst vor ihm zu haben. Er streichelte ihr über den Rücken und sagte: „Ganz ruhig, kleines Grauchen, erschrecke unseren späten Gast nicht.“ Dabei schmunzelte er ein ganz klein wenig. Natürlich kannte er diesen Vogel, es war der Uhu der Malfoys, der ihm ungeduldig einen Brief entgegenstreckte. Seltsamerweise war das Pergament kein bisschen durchfeuchtet. Offenbar ein gut platzierter Imperviuszauber ...
Lieber Severus,
du bist der einzige, an den ich mich wenden kann. Bei unseren Zusammenkünften kann ich nicht offen sprechen, zu viele hören mit und belauern jedes Wort von Lucius und mir, daher bitte ich dich auf diesem Weg: Beschütze meinen Sohn Draco. Ich mache mir große Sorgen um ihn. In den Weihnachtsferien, die er bei uns in Malfoy Manor verbracht hat, war er irgendwie eigenartig, gar nicht mehr er selbst. Seine ungesunde Blässe, die eingefallenen Wangen, die fahrigen Bewegungen, seine Appetitlosigkeit ... Es schien ihm schlecht zu gehen, obwohl er immer beteuert hat, ich würde mir das nur einbilden. Severus, ich vergehe fast vor Sorge um meinen Sohn. Stell dir vor, der Dunkle Lord hat mehrere Male ganz allein mit Draco gesprochen. Und Draco lief in all diesen Tagen nur wie ein Schatten seiner selbst durch unser Haus. ER hat ihm offensichtlich absolutes Stillschweigen geboten. Niemand von uns weiß, worum es dabei ging, selbst Bellatrix hat nicht die Spur einer Ahnung. Mein Sohn wimmerte und schriet im Schlaf – und ich weiß nicht, was ihn quält. Bitte, Severus, halte deine schützende Hand über meinen Sohn. Du weißt, dass unsere Familie derzeit nicht besonders hoch in der Gunst des Dunklen Lords steht. Draco will sich beweisen, er könnte leicht etwas Unbedachtes, Gefährliches tun. Ich bitte dich, Severus, hab ein Auge auf ihn. Ich weiß, dass ich mich auf dich verlassen kann, schließlich hast du seinetwegen ja im letzten Jahr den Unbrechbaren Schwur abgelegt – und alles getan, um ihm zu helfen. Daher bitte ich dich heute noch einmal darum. Der Dunkle Lord ist außerordentlich gereizt – und er lässt es besonders Lucius häufig spüren. Vielleicht kannst du – ja, ich wage es, dich darum zu bitten, - beim Dunklen Lord ein gutes Wort für ihn einlegen. Wir haben ihm unser gesamtes Anwesen zur Verfügung gestellt, doch behandelt er uns mit einer Herablassung und Verachtung, die mich nichts Gutes ahnen lässt. Ich habe Angst, Severus, nicht um mich, aber um Lucius und Draco. Stell dir vor, am ersten Weihnachtstag bekam ER, dessen Name nicht genannt werden darf, einen noch nie dagewesenen Wutanfall. Nagini, du weißt schon, seine riesige Schlange, hatte Potter aufgespürt. Wenn ich das richtig verstanden habe, dann war sie in Godrics Hollow, im Haus von Bathilda Bagshot. Aber sie konnte ihn nicht festhalten, und ER kam um ein Winziges zu spät, um Potter zu töten. Du kannst dir nicht vorstellen, wie zornig er war. Eine Spur der Zerstörung zog sich durch unser wunderschönes Anwesen. Zuerst dachte ich, er würde seine Schlange auch bestrafen, weil sie es nicht geschafft hatte, Potter für ihn festzuhalten, aber seltsamerweise tat er ihr nichts.
Die nächsten Zeilen waren durchgestrichen, doch Snape konnte die Worte noch erkennen.
Er ließ stattdessen seine Wut an uns aus, besonders an Lucius. Wahllos schlug er mit dem Cruciatus um sich ... Severus, ich habe Angst. Wie wird das alles nur enden?
Snape starrte auf das Pergament. Diese Frage hatte er sich auch schon so oft gestellt: Wie würde all das enden? Der Brief schloss mit den Worten: Ich erwarte keinen Antwortbrief von dir, unseren Uhu habe ich heimlich losgeschickt - Severus, ich flehe dich an, beschütze meinen Sohn vor dem Zorn des Dunklen Lords, und - wenn du es vermagst, versuche, etwas für Lucius zu tun. In tiefer Dankbarkeit
Narzissa
„Ganz schön leichtsinnig ...“, murmelte Snape vor sich hin und ließ dabei Narzissas Brief in Flammen aufgehen. Die kleine Katze mauzte erschrocken. Snape sprach beruhigend auf sie ein. Gut, dass ihn hier niemand hören konnte ... Dann trocknete er mit einem lässigen Schlenker seines Zauberstabes das Gefieder des Uhus und sorgte mit einem gezielten ungesagten Impervius dafür, dass das Tier einen leichteren Rückflug hatte. Seltsam, dass ihm ein solcher Gedanke nicht früher schon gekommen war. Seit ein Tier an seiner Seite lebte, entdeckte er Dinge, über die er sich nie Gedanken gemacht hatte. So vieles war neu für ihn, doch er hatte keine Zeit, innezuhalten und darüber nachzudenken. Er fühlte eine ständige Anspannung, gepaart mit einer nie gekannten Müdigkeit. Manchmal kam er sich wie ein alter Mann vor. Jeder schien im Moment etwas von ihm zu erwarten. Er schaute an die Wand hinter seinem Schreibtisch, wo Dumbledore wachte, Dumbledore, der so viel von ihm verlangte:
Er sollte die Schüler vor den Carrows beschützen, er sollte hoch in Voldemorts Gunst bleiben, er sollte herausfinden, wo Potter war und ihm das Schwert von Gryffindor übergeben, er sollte darauf achten, wann Voldemort seine Schlange sicher an seiner Seite hielt, um Harry dann mitzuteilen, dass er sterben musste, und er hatte noch überhaupt keine Vorstellung, wie er es bewerkstelligen sollte, dass Harry ihm überhaupt zuhören, geschweige denn glauben würde. Nun, Voldemort hatte Nagini in Godrics Hollow gelassen – noch war es also nicht so weit ... Und nun also auch noch Narzissa ... Snape war überzeugt, dass Voldemort geschickt mit Narzissas und Lucius' Ängsten spielte. Wenn er einen gefährlichen Auftrag für Draco gehabt hätte, dann, da war er sich sicher, hätte er davon gewusst. Voldemort genoss die Furcht der Malfoys, denn der Nimbus seiner Allmacht hatte deutliche Risse bekommen. Zweimal war Potter vor aller Augen dem Dunklen Lord entkommen, und nun war es ihm ein weiteres Mal gelungen, ihm zu entwischen, ihm persönlich. Nun konnte er keinen seiner Todesser dafür verantwortlich machen, also bekamen sie seinen Zorn zu spüren. Vielleicht hatte er ja auch einige der Gerüchte bemerkt, die unter seinen Anhängern kursierten, einige der Zweifel mitbekommen, ob dieser Potter nicht doch Kräfte hatte, die die ihres Herrn überstiegen. Ja, Snape konnte gut verstehen, dass Voldemort wütend war.
Er gähnte und strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Schlaf, er brauchte dringend Schlaf, doch der Gedanke an seine nervenzerrüttenden Alpträume hielt ihn davon ab, sich hinzulegen. Sein Blick fiel auf das Denkarium, und er holte die antike Schatulle hervor. Dumbledore in seinem Rahmen murmelte ergriffen: „Sie haben sie gerettet.“ - „Nein, ich habe sie gestohlen, aus dem Büro von McGonagall“, erwiderte Snape trocken. - „Ich hatte sie Charity anvertraut“, wunderte sich Dumbledore, „doch sehen Sie sich ruhig alles an, es könnte sehr interessant für Sie sein, Severus, besonders die zweite Reihe.“ - „Ich hoffte eigentlich nur, dass die Beschäftigung mit diesen längst vergangenen Dingen mich von meinen ständig wiederkehrenden Alpträumen abhalten könnte.“ - „Nur zu, Severus, doch ob das Eintauchen in diese Erinnerungen dagegen hilft, bezweifle ich. Sie sollten sich ein wenig entspannen, hören Sie lieber ein wenig Musik, mein Freund. Auch das Streicheln einer Katze wirkt Wunder, das können Sie mir glauben.“ Als hätte sie jedes einzelne Wort genau verstanden, näherte sich das Tier, stupste mit der Pfote Snapes Hand an und begann zu schnurren. Während Snape Dumbledores Rat befolgte und das kleine Grauchen zu streicheln begann, fielen ihm schon die Augen zu.