Was für eine Schuld habe ich nur auf mich geladen? Jetzt ist es ein halbes Jahr her, dass so viele meiner Nachbarn umgekommen sind. Der Gedanke an die Geburtstagsgesellschaft des netten Mr. Harris, von denen keiner überlebt hat, verfolgt mich in meinen Alpträumen. Ich sehe sie dann alle an meiner Tür vorbeigehen und höre sie fragen: „Warum?“ - dann ist jedes Mal mein Mund verschlossen und ich kann ihnen nicht antworten. Warum habe ich Albus' Angebot nicht schon viel früher angenommen? Voller Reue stelle ich mir immer dieselbe Frage: „Würden sie alle heute noch leben, wenn ich mich anders entschieden hätte?“ Ich werde nie ohne Schmerzen an sie denken können, doch diese nie verheilende Wunde wird mich wach halten. Diesem Tom, diesem psychopathischen Massenmörder das Handwerk zu legen ist alles, was ich von meinem Leben noch erwarte. Nichts, was geschehen ist, kann man ungeschehen machen. Alles, was ich jetzt noch tun kann, ist, Harry zu helfen... Meine Knochen schmerzen – seit Albus' Tod geht es mir immer schlechter. Manchmal möchte ich mich hinlegen und nicht wieder aufstehen. Ich bin müde, so müde ...
Snape schüttelte den Kopf. Das, was er gerade gelesen hatte, schien wie ein Echo seiner eigenen quälenden Gedanken. Er beschloss, dies als ein Zeichen zu sehen, ein gutes Zeichen für das, was er vorhatte.
Den großen verschlossenen Schrank öffnete er problemlos mit seinem Dunklen Mal, er nahm die kleine alte Truhe heraus, vollführte einen Gemini-Zauber und stellte das Duplikat in den Schrank zurück. McGonagall würde nichts bemerken, solange er das Denkarium in seinem Büro hatte. Er verließ den Raum durch die geschlossene Tür, wie er ihn betreten hatte, und eilte, die Truhe unter den Arm geklemmt, zurück in sein Büro. Er sicherte die Tür mehrfach gegen unerwünschte Eindringlinge und öffnete hastig den Verschluss. Es war ein leichtes für ihn, festzustellen, welche Erinnerung Minerva sich angesehen hatte. Die Phiole hatte ein ungewöhnliches Aussehen, sie schien aus mehreren Teilen zu bestehen. Er öffnete sie ungeduldig und kippte den gesamten Inhalt ins Denkarium. Dann tauchte er kurzerhand hinein:
Es war ein seltsames Gefühl, er fand sich in völlig unbekanntem Gelände wieder und sah mehrere junge Leute, die sich offenbar einen heftigen Kampf lieferten. Von Ferne waren Schreie zu hören. Vorsichtig näherte er sich den Kämpfenden. Zwei der Duellanten kamen ihm vage bekannt vor. Es dauerte einen Moment, bis er in ihnen Dumbledore und dessen Bruder erkannte. Doch wer war der dritte? Ein Schrei, der ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ, schien ihn an seinem Platz festzunageln, Blitze zuckten durch die Luft, dann ein Wirbel von Farben – und plötzlich befand er sich an einem völlig anderen Ort. Er sah einen jungen Dumbledore in einem auffälligen pflaumenblauen Jackett, der sich in einem tristen Zimmer mit einem gut aussehenden Jungen unterhielt, der Tom hieß. Er sah dessen Schrank brennen und hörte Dumbledores mahnende Worte, er hörte ein sehr selbstbewusst wirkendes Mädchen fragen: “Halten Sie das wirklich für eine gute Idee, diesem Tom noch mehr Magie beizubringen?“, doch die Antwort konnte er nicht mehr erfassen, denn schon wieder umschloss ihn ein Wirbel aus Farben, und das Gebäude, in dem er eben noch gestanden hatte, war verschwunden. Stattdessen sah er vor sich ein seltsam fremd anmutendes Bild. Reglos starrte er darauf, bis ihm klar wurde, was ihm daran so eigenartig vorkam. Dumbledore, der Mann, der immer auf alles eine Antwort gehabt hatte, befand sich hier in genau der entgegengesetzten Position, die Rolle des Ratgebers hatte eine junge Frau übernommen. Gespannt verfolgte er das Gespräch und glaubte dabei seinen Ohren nicht zu trauen. Es war, als würde über ihn selbst gesprochen. Er war derart aufgewühlt, dass er nur Bruchstücke des Gesprächs aufzunehmen vermochte, Worte, die ihm eine Gänsehaut verursachten: „Sie haben in Ihrer Jugend einen schrecklichen Fehler gemacht. … Sie haben einen falschen Weg beschritten und diese Entscheidung wird den Rest Ihres Lebens bestimmen. Es liegt an Ihnen, wie sie es tut … Sie wollen nicht, dass irgend jemand davon erfährt – das verstehe ich, es ist Scham. Es ist gut, dass Sie so empfinden, es zeigt, dass Sie wahrhaft umgekehrt sind, dass Ihre Reue echt ist ... Man sagt, dass die Toten alles wissen. Wenn das wahr ist, dann wird sie Ihnen vergeben haben, sie wird wissen, wie leid es Ihnen tut, Jetzt aber ist es wichtig, dass Sie sich selbst vergeben ... Ich weiß, es wird weh tun, aber Sie können mir glauben, es wird Ihnen helfen.“
Wieder ein Wirbel von Farben, doch diesmal ließ Snape sich nicht mitreißen, sondern tauchte mit einem energischen Ruck aus dem Denkarium auf. Er musste seine Gedanken ordnen. Ihm war klar geworden, dass sich durch das ungestüme Hineinkippen der Erinnerungen der Inhalt der drei einzelnen Kammern der Phiole vermischt hatte - zu einem Gewirr von scheinbar zusammenhanglosen Erinnerungsbrocken. Er würde sich alles noch einmal der Reihe nach ansehen müssen. Und dennoch hatte ihn das Gesehene aufgewühlt. Mit ein paar ungesagten Zaubern füllte er die silbrig glänzende Flüssigkeit wieder in die Phiole zurück, Kammer für Kammer ... Das, was er gesehen hatte, schien genau für ihn bestimmt – wie eine alte Botschaft aus der Vergangenheit, die ihn gleichzeitig aufgewühlt und getröstet hatte. War es McGonagall womöglich ähnlich gegangen? Hatte sie nur deshalb von sehr interessanten Erinnerungen gesprochen? Oder enthielten sie doch noch etwas, was ihm weiterhelfen würde? Dieses Mädchen und die junge Frau, die er im Gespräch mit Albus gesehen hatte – natürlich, das war Charity Burbage, deshalb waren ihm diese Augen so vertraut vorgekommen. Er hatte dieses Gesicht oft gesehen, nur war sie da um vieles älter gewesen und das Schwarz ihrer Haare war grau geworden. Sie kannte also Dumbledore wirklich schon sehr lange – und sie kannte auch ... War es das? Charity hatte immer unwillig widersprochen, wenn er den Dunklen Lord erwähnt hatte, sie hatte stets energisch betont, dass er Tom Riddle heiße und nie verstehen wollen, warum ihn niemand bei seinem richtigen Namen nennt. - Dann war dieser Junge, dieser Tom – die Vorstellung fiel ihm schwer – er war Voldemort!
Jetzt fügte sich alles zusammen. Nun endlich war ihm klar, weshalb er sie ermordet hatte, weshalb er sie, wie sie ihm selbst erzählt hatte, verfolgt hatte – all die Jahre. Nun erfasste er auch die hintergründige Ironie in ihrem letzten Zeitungsartikel und verstand, weshalb gerade diese Ausgabe des Tagespropheten Voldemort in so fürchterliche Wut versetzt hatte. Jetzt endlich begriff er, weshalb der Dunkle Lord sein Opfer nicht noch vor der gesamten Versammlung seiner Todesser verhört hatte, obwohl er von ihrer Nähe zum Phönixorden wusste, er hatte sich gefürchtet vor jedem Wort, das sie hätte sagen können, vor allem aber davor, dass sie ihn mit seinem wahren Namen ansprechen könnte – deshalb der Schweigezauber, deshalb der ihm damals so sinnlos erschienene Mord ... Snape legte die Phiole vorsichtig in die Truhe zurück und schloss den Deckel. Wieder sprangen ihm Worte in die Augen, die ihn in letzter Zeit zu verfolgen schienen. Er rieb sich die Augen und betrachtete die Truhe genauer. Das, was ihm auf den ersten Blick wie verschlungene alte Ornamente vorgekommen war, entpuppte sich bei genauem Hinsehen als eine verschnörkelte Kette von Worten, die am linken unteren Rand begann und sich rings um die gesamte Truhe zog wie eine rankende Pflanze. Er las: "In einem Meer von Schmerz ertrinken die einen, die anderen lernen, darin zu schwimmen. * Schmerz ist der Arzt, auf den wir am meisten hören. Der Güte und der Weisheit machen wir nur Versprechungen, dem Schmerz aber gehorchen wir." Und nun bemerkte er, dass auch der Deckel eine Inschrift trug, die er beim ersten Blick darauf nicht erkannt hatte, so sehr glichen die Buchstaben kunstvoll verzierten Ornamenten. Omnia vincit amor Er stellte das Denkarium in den Schrank zurück und die Truhe vorsichtig daneben. Mit dem merkwürdigen Gefühl, als sei ihm soeben ein Schatz zuteil geworden, etwas, was nur für ihn allein bestimmt war, wandte er sein Gesicht zum Fenster und schloss die Augen, so dass die hereinfallenden Sonnenstrahlen darauf tanzen konnten. Er wusste, dies war ein seltener, ein kostbarer Moment. Hätte ihn jetzt jemand gesehen, so hätte er sich über den eigenartigen Ausdruck gewundert, der auf dem bleichen Gesicht seltsam unvertraut schien. Snape lächelte.
Der Autor des ersten Spruchs auf der Truhe ist nicht bekannt, der zweite stammt von Marcel Proust, der letzte wird Vergil zugeschrieben.