Hatte er sich nicht eben noch ermahnt, nicht mehr daran zu denken! Ein kopfüber an der Decke hängender Körper – und hier waren es drei - schlimmer als in seinen Alpträumen. „Fragen Sie die da, der Cruciatus wird ihnen schon die Zunge lösen.“ Eine kleine Blutlache auf dem Tisch zeigte, dass Alekto dies bereits versucht hatte. Snape schluckte. Er musste die Carrows unbedingt loswerden. Musste Zeit gewinnen. Versuchen, die Schüler zu schützen. Allein die Vorstellung, was Alekto mit den dreien anstellen würde, ließ ihn sich beinahe übergeben. Hilfe suchend starrte er auf das Portrait von Dumbledore. Der alte Schulleiter tippte sich leicht an die Stirn. Was sollte das? Zeigte er ihm etwa einen Vogel? Das Portrait wiederholte die merkwürdige Bewegung und legte den Finger an die Lippen. Jetzt hatte Snape verstanden. Er zog langsam seinen Umhang aus und drapierte ihn sorgfältig auf einem altertümlichen Ständer. Bei all diesen Bewegungen fiel sein unauffälliger ungesagter „Legilimens“ keinem der beiden Geschwister auf. Er musste sich sehr anstrengen, um keine Miene zu verziehen, nachdem er in Ginnys Geist eingedrungen war und gesehen hatte, wie sie versucht hatten, das Gryffindor-Schwert zu stehlen. Beinahe hätte sich auf seinen Zügen die Erleichterung abgezeichnet, die er bei dem Gedanken empfand, dass die Carrows seine Sicherungen doch nicht überwunden hatten. Dann wandte er sich an Alekto: „Verehrteste, es handelt sich um einen Einbruch in mein Büro und Ihre plumpen Versuche, etwas aus diesen Schülern herauszubekommen, werden nur unsinnig viel magisches Blut kosten. Ich weiß bereits, was sie hier wollten. Für mich gibt es hier keine Geheimnisse.“ Und an Amycus gewandt tippte er sich leicht mit dem Zauberstab an den Kopf: „ Hier muss man es haben, Teuerster.“ Snapes Flüstern klang ein wenig bedrohlich. Er durfte jetzt keinen Fehler machen. „Sie dürfen mein Büro jetzt verlassen, sofort!“ „Ich verlange eine Erklärung!“ - „Diese Schüler müssen strengstens bestraft werden!“ - „Wir sind für die Aufrechterhaltung von Ordnung und Disziplin verantwortlich!“ - „An ihnen werden morgen die anderen den Cruciatus-Fluch üben!“ - „Wir müssen den Dunklen Lord informieren!“
Mitten in diesem Geschrei tauchte plötzlich – von keinem der Streitenden bemerkt – eine grau getigerte Katze mit rechteckigem Muster um die Augen auf, um sich sogleich hinter ein paar alten Instrumenten zu verstecken. Doch was war das? Spielten ihr ihre Nerven jetzt einen Streich? Dort saß schon eine Katze. Sie starrte den Schulleiter an und gab keinen Mucks von sich. War das normal? Und wieso kam ihr das Tier so bekannt vor? Die Katze hatte sie sacht mit dem Kopf angestupst und war ein Stück zur Seite gerückt, ohne das geringste Geräusch. Ihre grünen Augen funkelten. Keiner hatte die beiden Tiere in ihrem Versteck bemerkt. Das Geschrei schien kein Ende nehmen zu wollen.
„Eine Unverschämtheit ist das!“ - „Einfach in das Büro des Schulleiters einzubrechen!“ - „Gehorsam und Respekt muss man diesen Rüpeln beibringen!“ - „Das wird Konsequenzen haben!“ - „Wir werden ein Exempel statuieren!“
„Ruhe jetzt!“ Snape hatte seine Stimme kein bisschen erhoben, trotzdem verstummten die Carrows augenblicklich. Genauso leise fuhr Snape fort: „Die drei Schüler sind mit Hilfe dieses magischen Messers“ – durch einen ungesagten „Accio“ flog das Messer mit dem Griff voran direkt in Snapes Hand – „in mein Büro eingedrungen, um ein altes Artefakt in ihren Besitz zu bringen, das Schwert von Gryffindor. Natürlich konnte ihnen das nicht gelingen, aber wir werden zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen ergreifen. Den Dunklen Lord werde ich persönlich informieren. Und diese drei da – sein Kopf ruckte in Richtung Decke – überlassen Sie getrost mir. Wie ich schon sagte, Sie dürfen jetzt schlafen gehen.“ Snapes gefährlich leise Stimme duldete keinerlei Widerspruch. Alekto ließ die Gefesselten mit einem Schlenker ihres Zauberstabes hart auf den Boden plumpsen. „Wie Sie wünschen, Schulleiter.“ Ohne ein weiteres Wort verließen die Carrows das Schulleiterbüro. Snape atmete auf. Er ließ sich auf seinen Stuhl fallen. Am Boden war ein leises Stöhnen zu hören.
„Was haben Sie sich nur dabei gedacht, hier einzubrechen? Und sich dann auch noch erwischen zu lassen! Wie konnten Sie nur so dumm, so unvernünftig sein? Von Ihnen habe ich ja nichts anderes erwartet, Longbottom, Miss Lovegood, wie konnten Sie nur bei so etwas mitmachen – und Miss Weasley, Sie meinen wohl, in die Fußtapfen Ihrer Nichtsnutze von Brüdern treten zu müssen?“ Statt einer Antwort starrten ihn die drei nur grimmig an. „Sie sind sich darüber im Klaren, dass Sie dafür mit einer harten Bestrafung zu rechnen haben.“ Neville flüsterte: „Ja, der Cruciatus ...“ „Schwachsinn!“ Snape schüttelte den Kopf. „Sie werden etwas Sinnvolles tun. Sie werden ab morgen Abend Strafarbeiten verrichten, täglich bis zum Ende des Monats. Sie haben sich täglich nach dem Abendessen pünktlich bei Hagrid einzufinden. Er braucht Hilfe im Verbotenen Wald.“ Ungläubig schaute Neville den Schulleiter an. Ginny und Luna zwinkerten einander heimlich zu, sie konnten es kaum fassen, man würde sie nicht foltern. „Sie werden jetzt in Ihre Schlafsäle gehen und über diese Sache mit niemandem sprechen, mit niemandem!“, flüsterte Snape drohend, „sonst werde ich mir das mit dem Cruciatus nochmal überlegen.“ Mit einem lässigen Schnippen seines Zauberstabes löste er die Fesseln und sah sie alle der Reihe nach an. „Und jetzt raus hier!“ Luna griff nach Ginnys Hand, fasste mit der anderen Nevilles linken Arm und führte sie aus dem Büro. Auf der Treppe, die sie rasch nach unten trug, sahen sie vor sich eine grau getigerte Katze mit einem rechteckigen Muster um die Augen. „Mrs. McGonagall?“ Luna blieb wie angewurzelt stehen, so dass die beiden anderen hinter ihr ins Straucheln gerieten. Stöhnend hielt sich Neville den Arm. Es dauerte nur einen Augenblick, da stand Minerva in ihrer menschlichen Gestalt vor ihnen. „Sind Sie verletzt?“, fragte sie besorgt, „Mr. Longbottom, mir war, als hätte ich vorhin Ihren Arm brechen hören, zeigen Sie mal her.“ Sie fasste nach Nevilles rechter Hand, der unterdrückte ein Keuchen, konnte aber nicht verhindern, dass ihm der Schweiß ausbrach. „Ich bringe Sie sofort in den Krankenflügel, Mrs. Pomfrey kann Ihren Knochen im Nu heilen – und auch alles, was Alektos Zauberstab angerichtet hat, wird sie spurlos beseitigen können.“ Sie schaute Ginny und Luna prüfend an. „Wenn Sie Glück haben, werden keine Narben zurückbleiben. Kommen Sie, rasch.“
„Wir haben Sie gar nicht gesehen, Professor. Waren Sie die ganze Zeit in Snapes Büro?“ „Nein, Miss Lovegood, ich habe das Gekreisch von Mrs. Carrow gehört und bin so schnell ich konnte gekommen.“ Mit vor Empörung fast zitternder Stimme fuhr sie fort: „Den Cruciatus-Fluch üben – wo gibt es denn so etwas, das hätte ich auf keinen Fall zugelassen. Ich hatte schon damit gerechnet, mich mit den beiden duellieren zu müssen, doch dann hat ausgerechnet Snape ihnen Einhalt geboten ...“ „Darüber haben wir uns auch gewundert. Ob es tatsächlich stimmt, dass Du-weißt-schon-Wer befohlen hat, dass sie nicht zu viel magisches Blut vergießen sollen?“ „Ich glaube“, sagte Luna ganz leise, „dass er die Carrows nicht leiden kann. Er wollte ihnen einfach nur zeigen, wer hier der Chef ist.“ Minerva überlegte. Natürlich, Luna hatte Recht, und bis zum Monatsende Strafarbeiten im Verbotenen Wald zu verrichten, war Snape sicherlich als weitaus wirkungsvollere Bestrafung erschienen, zumal er so gleichzeitig die Carrows in die Schranken weisen konnte. Und trotzdem ... Irgendetwas an Snapes Verhalten war merkwürdig gewesen. Als er erschöpft an seinem Tisch zusammengesunken war, hatte sie beinahe einen Anflug von Mitleid verspürt. Was für seltsame Gedanken, ob das an dieser Katze lag, die ihn die ganze Zeit unverwandt angestarrt hatte ... Mit einer heftigen Kopfbewegung verscheuchte sie diese Gedanken und weckte Mrs. Pomfrey. „Poppy, wir brauchen deine Hilfe, die drei sollten über Nacht hier bleiben.“ Ohne überflüssige Worte – ein Blick auf die Verletzungen der beiden Mädchen genügte – wies sie jedem ein Bett zu und ging ans Werk. Besorgt schaute Minerva zu. „Sie kriegen das doch bis morgen früh wieder hin, Poppy, oder ...?“ - „Keine Sorge, Minerva, aber Sie sehen auch ziemlich mitgenommen aus, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf. Soll ich Ihnen nachher etwas zur Stärkung geben?“ - „Das wäre nett, es ist die Anspannung, wissen Sie, ich mache mir Sorgen um meine Schüler. Filius habe ich nicht extra geweckt, er wird es noch früh genug erfahren, dass auch ein Mädchen aus seinem Haus dabei ist.“ - „Glauben Sie mir, Minerva, manchmal frage ich mich, warum ich es hier überhaupt noch aushalte. Wenn ich mich nicht so um die Kinder sorgen würde und darum, wer sich dann um all ihre Verletzungen kümmert – ich hätte schon längst gekündigt. Hogwarts ohne Dumbledore ...“ Sie flüsterte: „Sie werden es nicht glauben, Minerva, aber wenn ich Alektos Gekreisch höre, verspüre ich manchmal in mir den Drang, ihr den Hals umzudrehen, ich, der ich noch nie in meinem Leben einem Menschen etwas getan habe.“ Minerva schmunzelte. „Mir geht es da ähnlich, ich stelle mir auch manchmal vor, wie ich meine Hände um ihren Hals lege und einfach zudrücke, aber ein ungesagter „Silencio“ ist besser für unser aller Gesundheit.“ Die beiden Frauen verließen leise das Krankenzimmer. Zurück in ihrem Büro kam Minerva wieder die fremde Katze in den Sinn, die sich so merkwürdig verhalten hatte. Sie hatte das Gefühl, es müsste ihr jeden Moment einfallen, woran sie sie erinnert hatte, doch sie konnte den Gedanken nicht festhalten, sie brauchte dringend Schlaf. Morgen würde sie mit Sicherheit darauf kommen.